Es gibt Menschen, die kommunizieren in Urteilen. Vielleicht kennen Sie das.
Sie haben einen Freund aus der Zeit Ihrer gemeinsamen Ausbildungen. Heute sehen Sie sich selten.
Wenn Sie sich sehen, dann überschwemmt er Sie mit Urteilen. Er teilt Ihnen mit, was er großartig findet in der Welt, was überhaupt über alles geht und was Sie unbedingt auch kennen lernen, lesen, sehen, besuchen, probieren, erleben müssen. Oder das Gegenteil. Er textet Sie zu mit allem, was absolut nicht geht, wirklich das Allerletzte ist und nur dazu führt, dass die Welt sehenden Auges in den Abgrund steuert.
Oder beides.
Er sucht Gemeinschaft mit Ihnen im gemeinsamen Urteil. Seine Freundschaft mit Ihnen beruht auf gemeinsamen Urteilen über die Welt. Die Urteile müssen nicht besonders fundiert sein. Sie sind nur der Anlass, sich emotional miteinander zu verbinden. So wie früher, in Ihren Zwanzigern. Damals funktionierte das. Ihre Urteile verbanden Sie miteinander, bildeten Grundlage des gemeinsam empfundenen „Wir“. Heute ist das schwierig, heute funktioniert es nicht mehr.
Immer wenn Sie zusammen sind, und er beginnt wieder einmal, Sie mit seinen Urteilen einzudecken, gehen Sie innerlich in Reserve, auf Abwehr, in Widerstand. Die harmloseste Variante ist noch, Sie machen einfach zu, werden einsilbig und lassen ihn reden. Sie werden jedoch erfahren haben, dass das keineswegs dazu führt, dass er aufgibt. Im Gegenteil: die emotionale Gemeinschaft kommt nicht zustande, und er legt nach. Für Sie wird das immer unerträglicher. Bis Sie die Zusammenkünfte mit ihm meiden oder sich im Konflikt von ihm trennen. Er weiß unter Umständen überhaupt nicht warum und erlebt nur, dass Sie sich abschotten und von ihm abwenden. Dabei lebte Ihre Freundschaft doch immer davon, dass Sie beide ein und derselben Meinung waren!
Was können Sie tun, um den Teufelskreis zu durchbrechen, in den Sie zwangsläufig zu geraten drohen?
Ihr Gesprächspartner spricht verschiedene Themen an, wenn Sie beisammen sind. Einigen davon können Sie nichts abgewinnen, andere mögen Sie vielleicht sogar interessieren. Doch das zeigen Sie gar nicht erst. Sie wissen inzwischen aus Erfahrung, worauf das hinausläuft. Sie werden eingesponnen in die Erwartung Ihres Gegenübers, ein vorgefasstes Urteil zu bestätigen und zu teilen. Nur darum scheint es zu gehen. Das nervt Sie kolossal.
Ändern Sie probehalber Ihr Vorgehen. Zeigen Sie Ihr Interesse, wo es wirklich vorhanden ist. Fragen Sie ihn aus über das Buch, von dem er Ihnen vorschwärmt, über den Film, den Sie unbedingt sehen müssen. Fragen Sie differenziert. Haken Sie nach, wenn Ihr Freund nicht wirklich auf Ihre Frage eingeht. Bleiben Sie bei einem Thema.
Und: lesen Sie anschließend das Buch. Schauen Sie sich den Film an. Und gehen Sie darauf ein, wenn er darauf zurückkommt. Oder kommen Sie selbst in einem späteren Gespräch darauf zurück.
Sie werden dann, so oder anders, die Möglichkeit haben, zu vermitteln: Schau mal, ich bin deiner Empfehlung gefolgt. Ich habe das Buch gelesen. Ich wäre da nie drauf gekommen, wenn nicht durch dich. Und ich finde es tatsächlich interessant. Es hat für mich das und das…
Ich habe auch dein Urteil über das Buch gehört. Interessiert es dich, wie ich es sehe? Ja? Es hat für mich einen anderen Stellenwert als für dich…
Wenn Sie das ein paar Mal hinbekommen, entsteht dadurch die Chance, dass Ihre Verbindung einen anderen Boden erhält, und es nicht zwanghaft weiterhin die gemeinsamen Urteile sein müssen, die Sie miteinander verbinden (was ohnehin nicht mehr klappen würde). Ihr Gegenüber wird erleben, dass Sie aus Ihrem Interesse an ihm als Mensch seine Hinweise ernst nehmen. Das wird es auch ihm ermöglichen, einen anderen Boden der Gemeinschaft mit Ihnen zu akzeptieren, als die frühere Gemeinsamkeit im Urteil.
Nothart Rohlfs